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Als der Belgier Adolphe Sax Mitte des 19. Jahrhundert das Saxofon erfand, konnte er nicht ahnen, was er mit seiner Erfindung auf den Weg gebracht hatte. Weder in der klassischen Musik noch in der Militärmusik fand sein neuartiges, metallenes Holzblasinstrument besonderen Anklang. Erst lang nach seinem Tod wurde es über swingende Big Bands zum wichtigsten Instrument der Jazzmusik.
Vermutlich hätte es den Herrn Sax erstaunt, hätte er miterleben dürfen, wie im September 2021 ein junges Trio aus Deutschland auf einer Bühne vor dem Reichstag in Berlin vor über 50.000 auf- und abspringenden Menschen beim Klimastreik laut gegen den Klimawandel und den fehlenden politischen Konsequenzen mit zwei lärmenden Saxofonen und einem Schlagzeug anspielen: BRASS RIOT.
Das Trio um Constantin von Estorff (Sax), Simon Sasse (Drums) und Carl Weiß (Sax) hat sich noch zu Schulzeiten in Lüneburg vereint. Was dort zunächst als Straßenmusik begann, wurde über die Nähe zu politischen Initiativen, allen voran die Fridays-For-Future-Bewegung und Auftritten auf unzähligen Demonstrationen zur festen und gefragten Formation.
Der Bandname ist dabei leicht irreführend, meint „Brass“ in der Musik ja die Blechblasinstrumente wie etwa die Trompete oder die Tuba, auch wenn sich in den meisten Brass-Bands immer auch ein Saxofon finden lässt. Zudem bedeutet das Wort „Brass“ in der deutschen Sprache etwas, was wiederum perfekt zu diesem jungen, energiegeladenen Trio passt: Wut.
Nach ihrem Debüt-Album „Matschsafari“ aus dem Jahr 2018 erscheint nun auf dem Staatsakt-Sub-Label Fun In The Church ihr zweites Studioalbum „The Never Acting Story“. Der Album-Titel fasst in kritischer Anspielung auf das weltberühmte Fantasy-Buch von Michael Ende gut zusammen, worum es in der Musik von BRASS RIOT im Kern geht: Um die Möglichkeit, sich für all den Brass auf die verfehlte Politik der letzten Jahrzehnte und der damit verbundenen Frustrationen und Ängsten ein lärmendes Ventil zu verschaffen und sich für einen Moment davon zu befreien. Dass auf diesem Weg die wildeste Live-Musik auf diesem Krisen-gebeutelten Planeten entstanden ist, ist eine Ironie der Geschichte – und ganz sicher nicht das erste Mal passiert. Also dass ein Nichteinverstanden-Sein mit der Gesellschaft in der Musik eine solche enorme Kraft entwickelt. Das ist im Jazz von Charlie Parker nicht anders als in den Songs von Patti Smith, den Raps von Little Simz oder dem Afro-Beat von Fela Kuti.
Musikalisch bewegen sich BRASS RIOT dabei eher im Spannungsfeld des melodiösen Ska-Pop von Madness, dem Fake-Jazz der Lounge Lizards und zeitgenössischer Rave-Brass-Ensembles wie MEUTE zwischen House-Music und Elektro-Beats.
Dass sie es trotz aller Party-Tauglichkeit geschafft haben, ihren Sound über die Jahre so stark zu politisieren, und das ganz ohne Song-Lyrics, ist wirklich phänomenal.
Das neue Album, produziert von Tilman Hopf in den legendären Chez-Cherie-Studios in der Sonnenallee in Berlin-Neukölln, ist dabei nahezu ein Live-Album geworden, denn wir hören die Band hier bis auf ein paar wenige Studio-Overdubs ihr Repertoire tatsächlich komplett live spielen. Das können sie tatsächlich genauso - ohne Strom und Verstärker - an jeder Straßenecke aufführen. Außer dem gerne eingesetzten EWI-Saxofon, einem sogenannten elektronischem Blaswandler, der es erlaubt, Synthesizer-Sounds anzutriggern.
Dieses Instrument wiederum wurde von einem gewissen Nyle Steiner in den 70er Jahren ersonnen, konnte sich aber weder im Pop noch im Jazz durchsetzen. BRASS RIOT aber lieben ihr Electronic Wind Instrument!
Zur futuristischen Ästhetik des EWI passt am Ende das Artwork des Künstlers Sandro Rybak, der „The Never Acting Story“ irgendwo zwischen Fantasy- und Gamer-Welt angesiedelt hat.
Das Saxofon auf dem Cover ist inszeniert wie ein Holy Grail, wie eine Zauberwaffe oder ein Gadget, das uns Gött:innen oder Außerirdische vermacht haben müssen. Bedenkt man, was dieses Instrument in den letzten 100 Jahren schon alles bewegt hat, bleibt uns allen nur zu wünschen, dass auch BRASS RIOT mit ihrer „Weapon Of Choice“ die richtige Wahl getroffen haben!